Geographien der Wohnungslosigkeit und die Restrukturierung städtischer Sozialpolitik
Regieren der Wohnungslosigkeit heißt: Wohnungslosigkeit als politisches Problem konstituieren und Maßnahmen zu dessen Bearbeitung vornehmen. Die Untersuchung zielt darauf ab, herauszuarbeiten, welche Kontinuitäten und Verschiebungen sich in den gegenwärtigen, vermeintlich neoliberalen Gouvernementalitäten der Wohnungslosigkeit finden lassen. Über Fallstudien in den Städten Frankfurt am Main und Berlin zeichnet das Projekt nach, wie sich das Regieren von Wohnungslosigkeit in einem komplexen Kraftfeld von veränderten stadtentwicklungspolitschen Dynamiken, neueren Sozialreformen und lokal gewachsenen Kräfteverhältnissen konkret vollzieht.
In der angloamerikanischen Stadtforschung ist Wohnungslosigkeit bereits seit den 1990er Jahren ein prominenter Forschungsgegenstand. Zum einen werden Wohnungslose hier herangezogen, um die Verdrängung marginalisierter Gruppen aus den öffentlichen Räumen der Innenstädte beispielhaft zu illustrieren und zu skandalisieren. Zum anderen werden die Überlebensstrategien und alltäglichen Raumaneignungen städtischer Räume durch Wohnungslose und der auf sie ausgerichteten sozialen Einrichtungen analysiert. Beide Forschungsrichtungen fokussieren vor allem auf die Straßenobdachlosigkeit als sichtbarste Ausprägung des größeren Phänomens Wohnungslosigkeit.
Die Analytik der Gouvernementalität der Wohnungslosigkeit bewegt sich jenseits dieser etablierten Forschungsperspektiven. Entwickelt wird ein Zugriff, der nicht so sehr die marginalisierte Gruppe der Wohnungslosen selbst zum Thema macht, sondern vielmehr das komplexe Netz der Regierungsweisen der Wohnungslosigkeit, das sowohl repressive und fürsorgliche Sozialpolitiken als auch die Selbsttechniken der Wohnungslosen umfasst, in den Mittelpunkt rückt. Das Forschungsprojekt gliedert sich in drei verbundene Teilschwerpunkte:
- Um die Verschiebungen in der politischen Bearbeitung von Wohnungslosigkeit zu verstehen und identifizieren zu können, rekonstruiert das Projekt aus genealogischer Perspektive, wie Wohnungslosigkeit in das Blickfeld des Staates geriet und auf dem staatlichen Territorium verortet, festgesetzt und verfolgbar gemacht wurde. Die historisch verschiedenen Problematisierungen und „Verortungen“ der Wohnungslosigkeit werden dabei als unterschiedliche Artikulationen der „sozialen Frage“ verstanden.
- Die lokalen Effekte des Zusammenwirkens aktueller Stadtentwicklungsdynamiken, innerstädtischer Aufwertungsprozesse und einer neoliberal restrukturierten städtischen Sozialpolitik untersucht das Projekt in einem zweiten Schwerpunkt, der Wohnungslosigkeit als Gegenstand der Regulation durch das Hilfesystem auf (sub)kommunaler Ebene in den Blick nimmt. Neoliberale Sozialpolitik wird hier sichtbar als abgestuftes, differenziertes Netz von staatlichen und humanitären Hilfs-, Aktivierungs– und Normalisierungsmaßnahmen.
- Strategien des Sichtbar– oder Unsichtbarmachens von Wohnungslosigkeit und der auf sie ausgerichteten Hilfesysteme im städtischen Raum bilden einen dritten Schwerpunkt. Welche Architekturen, welches Design kommt zum Einsatz, um Nutzungsweisen des städtischen Raums zu steuern? Wie vollzieht sich Raumaneignung in Einrichtungen der sozialen Wohnhilfe, welche gestalterischen Mittel kommen hier zum Einsatz?
Analytischen Zugang zu diesen Forschungsschwerpunkten ermöglichen vor allem epistemische Dinge (historische Wandererkarten und Ausweissysteme, Wohnfähigkeitsgutachten, Wohnungslosigkeitsstatistiken) als auch soziotechnische Artefakte wie etwa Architekturen und Designs, die Wohnungslosigkeit auf verschiedene Weise intelligibel, kontrollierbar, und damit auch sichtbar oder unsichtbar machen sollen und daher operative Bestandteile des Regierens der Wohnungslosigkeit darstellen.
Leitung: Robert Pütz, Nadine Marquardt
Bearbeitung: Nadine Marquardt
Projektbezogene Publikationen
- Marquardt, Nadine (2013): Räume der Fürsorge. Regieren der Wohnungslosigkeit im betreuten Wohnen. In: Geographische Zeitschrift, 101(3+4), 148–165
